Fehlende Vorlesevorbilder
»Fehlende Vorbilder - Was tun, wenn der Vater nicht liest?«
Rede zur Pressekonferenz »Trendbericht Kinder- und Jugendbuch« Leipzig, 2011 von Ulrich Störiko-Blume, avj-Vorstandsvorsitzer 2010-2012
Der V-Faktor: Vorbildliche Väter lesen vor
"Die unglaubliche Nähe, die entsteht: Der Vater, der vorliest, macht nichts anderes, und das Kind, das zuhört, macht ebenfalls nichts anderes. Der Vater ist eine halbe Stunde lang zu 100 Prozent für sein Kind da."
Arne Ulbricht im Sonntagsgespräch mit BuchMarkt am 27.02.2011
Vor dem Lesen kommt das Vorlesen. Vorlesen können auch Väter; das kann mehr als eine Überbrückung für die Phase sein, in der die Kinder noch nicht selbst lesen können. Die Gemeinsamkeit des Lesens ist das Entscheidende. Das kann sich später fortsetzen, wenn Väter dieselben Bücher wie ihre Kinder lesen, insbesondere die Jungen. Füreinander da sein, miteinander etwas genießen ? das ist ein Kernbestandteil des Familienlebens.
Wenn allgemein in der Gesellschaft Barrieren für Frauen und althergebrachte Rollenzuweisungen abgeschafft werden, muss dies auch im Vermittlungsprozess von Kinder- und Jugendliteratur geschehen.
Kinder beiderlei Geschlechts werden derzeit überwiegend
- von Müttern erzogen
- von Erzieherinnen im Kindergarten umsorgt
- von Grundschul-Lehrerinnen elementar gebildet
- von Bibliothekarinnen mit Büchern versorgt
- von Buchhändlerinnen beraten
Wenn hier eine zu stark einseitig weiblich geprägte Domäne bestehen bleibt, wird das Interesse des männlichen Nachwuchses nicht im möglichen und wünschenswerten Ausmaß geweckt.
Die Befunde neuerer Untersuchungen bestätigen das - zeigen aber auch Ansatzpunkte für ein Gegensteuern auf. Eine kulturell orientierte männliche Komponente in der Erziehung muss selbstverständlicher und präsenter werden.
1. Die LageWer kauft Kinder- und Jugendbücher (KJB)?
Über 90 Prozent aller KJB werden von Erwachsenen (= Menschen über 20 Jahre) gekauft.
- 2/3 der Käufer von KJB sind weiblichen Geschlechts.
- Vorlesebücher verkaufen sich auf niedrigem Niveau, bleiben aber stabil.
Wer von den Kindern (6 -13 Jahre) liest Kinder- und Jugendbücher?
- 15 Prozent der Mädchen, aber nur 6 Prozent der Jungen bezeichnen Bücherlesen als liebste Freizeitaktivität.
- 11 Prozent der Mädchen, aber nur 6 Prozent der Jungen würden von allen Medien am wenigsten auf Bücher verzichten.
- 3/5 der Mädchen, aber nur 2/5 der Jungen sind regelmäßige Leser.
- 15 Prozent der Mädchen, aber 24 Prozent der Jungen sind Nichtleser.
Wer von den Jugendlichen (12 ? 19 Jahre) liest Jugendbücher?
- 48 Prozent der Mädchen, aber nur 28 Prozent der Jungen lesen täglich oder mehrmals in der Woche Bücher.
- Für 62 Prozent der Mädchen ist Bücherlesen sehr wichtig oder wichtig (Rang 4 unter den Medien), nur 39 Prozent der Jungen sehen das ebenso (Rang 8).
- 11 Prozent der Mädchen, aber 23 Prozent der Jungen sind Nichtleser.
Das alltägliche Zeitbudget von Kindern und Jugendlichen wird mit ständig neuen medialen Angeboten herausgefordert:
- Die Ausstattung der Haushalte mit Internetzugang ist nahe 100 Prozent.
- TV-Nutzung geht leicht zurück, während die PC-Nutzung offline und online stark zunimmt.
- Während 2004 nur 49 Prozent das Internet täglich oder mehrmals in der Woche nutzten, ist dieser Anteil 2010 auf 90 Prozent gestiegen. Trotz dieses enormen Zeitbedarfs ist die vergleichbare Quote beim Bücherlesen seit 1998 mit leichten Schwankungen bei 38 Prozent geblieben. Die TV-Nutzung ist zum Vergleich von 92 Prozent auf 88 Prozent gesunken.
- Für die Schule sind bereits heute fast alle im Netz: Nur 16 Prozent der 6- bis 13-Jährigen benutzen das Internet nie für Hausaufgaben.
- Die Ausstattung der Jugendlichen mit Handys ist nahezu 100 Prozent; die Kinder ziehen allmählich nach; gewöhnliche Handys werden immer mehr durch Smartphones ersetzt.
Was Mütter und Väter heute meistens tun:
- Väter nehmen kaum Einfluss auf die Buchkäufe, sie interessieren sich offenbar nicht dafür.
- Mütter bemühen sich sehr um die richtige Literatur ihrer Kinder. Fantasy liegt ihnen jedoch persönlich meistens nicht, aber sie tolerieren solche Bücher, weil sie dem Interesse ihrer Kinder genügen wollen. Bei der Lektüre für Jungen wissen sie nur begrenzt, was ihre Kinder wirklich interessiert.
- Beide Faktoren zusammen sind mit dafür verantwortlich, dass die Jungen ab etwa 12 Jahren in großem Maße als Leser verlorengehen.
- Elektronische Medien und Fernsehen sind den meisten Müttern suspekt; sie kennen sich nicht wirklich aus und versuchen lediglich, das Zeitbudget dafür zu begrenzen.
Die für das Bücherlesen von Jungen negativen Faktoren:
- Unter Jungen ist das Lesen von Büchern häufig negativ konnotiert ? für Mädchen dagegen sind Bücher ein fester Bestandteil ihres Lebens, worüber sie sich mit ihren Freundinnen gern austauschen.
- Sach- und Lernbücher verlieren gegenüber erzählerischen Büchern. Ihr Anteil ist von 22 Prozent im Jahre 2006 auf 17 Prozent im Jahre 2009 gesunken.
- Eltern beklagen, dass es für Mädchen ein viel größeres geeignetes Buchangebot gibt als für Jungen.
- Wenn es um ?Spaß haben? geht, sind Bücher die mit Abstand am seltensten genannten Medien.
2. Die ChancenDie wichtigsten Faktoren für die Verbesserung der Leseneigung bei Jungen:
- Kaufgrund # 1 ist 2010 ?Spaß beim Lesen?, das war 2007 # 5. War 2007 das ?Thema? des Buches Kaufgrund # 1, ist dieses Kriterium auf # 9 gesunken.
- Umgekehrt war 2007 das Kriterium ?Spannung? # 4, ist es jetzt # 2.
- Von 2006 auf 2009 hat sich der Anteil der für Jungen gekauften Bücher insgesamt von 42 Prozent auf 44 Prozent erhöht, bei den einzelnen Altersgruppen sieht das so aus:
ot10/11-Jährige: von 35 Prozent auf 42 Prozent
ot12/13-Jährige: von 19 Prozent auf 30 Prozent
ot14/15-Jährige: von 18 Prozent auf 21 Prozent
- Jungen lassen sich von dicken Büchern nicht abschrecken, wenn sie spannend sind.
- Bei den KJB-Käufern ab 40 Jahren nimmt der Anteil der Männer zu.
- Wenn für die Haupterzieher das Buch das am wenigsten verzichtbare Medium ist, besteht diese Präferenz auch bei 25 Prozent ihrer Kinder; bei Eltern mit anderen medialen Präferenzen liegt diese Zahl bei 6 Prozent.
Neue Chance E-Books:
- Die Ausstattung des Marktes mit E-Book-Readern und Tablet-PCs beginnt gerade.
- 20 Prozent der 10- bis 19-Jährigen, die gerade ein KJB gekauft haben, können sich vorstellen, dieses auch als E-Book zu lesen.
- 10 Prozent der 10- bis 19-Jährigen, die gerade ein KJB gekauft haben, können sich vorstellen, dieses auch als E-Book zu kaufen.
3. Was tun?- Appell an die Väter: Bücherlesen bei Kindern findet zu 1/3 nachmittags und zu 2/3 abends vor dem Schlafengehen statt ? dann sind die Väter zu Hause und haben meistens auch Zeit.
- Appell an die Verlage: Es gibt zu wenig ?komische/lustige? KJB, insbesondere für Jungen. Machen!
- Appell an die Lektorate: Titel, Umschlagtext und Buchanfang müssen spannend sein.
- Appell an die Buchhandlungen: Ihre Stärken sind persönliche Empfehlung, Tipp, Gespräch ? das alles zusammen ist Kaufgrund # 1 für den Besuch in der Buchhandlung und macht 88 Prozent der Kaufentscheidung aus.
- Appell an die Bibliotheken bzw. ihre Betreiber: Ihre Empfehlungen können bei jungen Lesern sehr viel bewirken, denn fast alle Kinder besitzen einen Bibliotheksausweis.
Erkenntnisse und Hinweise sind folgenden Studien zu verdanken:- Kinder- und Jugendbuch-Studie 2010 im Auftrag von avj und Börsenverein, durchgeführt von GfK und Sinus Sociovision
- KIM-Studie 2010, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest
- JIM-Studie 2010, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest
- Buch und Buchhandel in Zahlen 2010, Börsenverein